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Die etwas andere Biografie (Teil 1)

Die etwas andere Biografie
oder: liebe Mütter, redet mit eurem Kind

Auf meinem ersten eigenen Personalausweis lese ich, dass ich in Bayern geboren bin. Wir aber leben in Nordrhein-Westfalen. Spannend ist es ja schon, überlege ich mit leichtem Herzklopfen, doch ich möchte gerne wissen, wie es dazu kam. Kurzum bitte ich meine Eltern um eine Erklärung: „Ach weißt du, wir waren zu dem Zeitpunkt in Urlaub. Du warst auch damals schon neugierig und deshalb zu früh auf die Welt gekommen.“ Aha, denke ich, deshalb fühle ich mich vielleicht irgendwie schuldig. Anstatt zu warten, bis meine Eltern gut erholt aus dem Urlaub zurück zu Hause sind und sich mit meiner Geburt hätten adäquat befassen können, siegte offensichtlich damals schon meine Neugierde. Wie peinlich! Sie haben immer alles für mich getan, liebevoll umsorgt, behütet, geliebt. Ich beruhige mich wieder, schließlich weiß ich ja, dass es meinerseits keine böse Absicht war.

In der Schule häufen sich die Themen um Aufklärung, Schwangerschaft, Geburt und was sonst noch alles dazu gehört. Meine Klassenkameradinnen haben so unglaublich viel zu erzählen aber ich merkwürdigerweise nicht. Logisch, denn meine heiß geliebten Eltern mochten mich nicht mit dieser anstrengenden Thematik überfordern oder gar belasten. Zumindest argumentieren sie so, um mich zu vertrösten. Doch ich fasse mir ein Herz und frage meine Mutter direkt: „An welchem Wochentag wurde ich eigentlich geboren?“ „Wie war die Schwangerschaft?“ „Hattest du unerträgliche Schmerzen?“ Und so weiter und so weiter. Die Beantwortung der Fragen werden erledigt, ja, aber ich kann nicht so recht etwas damit anfangen. Einige Wochen später wage ich einen erneuten Anlauf. Oha, diesmal ist mein Geburtstag kein Sonntag mehr, sondern ein Donnerstag. Habe ich mich verhört? Upps, mein Geburtsgewicht schwankt, und nach nochmaligem Nachfragen waren die Geburtsschmerzen doch nicht mehr so heftig und die Körpergröße variiert ebenfalls. Beunruhigt und enttäuscht aber aufgebend belasse ich es dabei. Ich komme nicht weiter, und so wichtig ist es ja nun auch wieder nicht.

Als 19jährige junge Frau, sehr verwöhnt, stark abhängig von den Eltern, möchte ich mich nun doch endlich abnabeln und freue mich auf die Flügel… Ich möchte endlich einmal mein Leben selbst in die Hand nehmen, alleine die Bankgeschäfte erledigen und einen eigenen Schrank zusammen zimmern. Doch da begegnet mir ein Mann und ich denke ok, zu zweit ist der Schrank schneller aufgebaut… Wir möchten zusammen ziehen. Für meine Eltern bricht eine Welt zusammen. Ihre absolut gut behütete Tochter beabsichtigt ein Leben in wilder Ehe? Das geht ja gar nicht. „So haben wir dich nicht erzogen! Entweder ihr heiratet oder du bleibst sowieso besser unter unseren Fittichen!“

In meiner Ausbildung zur Industriekauffrau werde ich doch selbstständiger und fordere bockig höchst persönlich meine Geburtsurkunde beim Standesamt an. Diese möchte der Standesbeamte doch bitte unbedingt an die Adresse meines Ausbildungsbetriebes schicken. Ich möchte eigene Post erhalten, so! Und es dauert… mir natürlich zu lange, immerhin bin ich ja sowieso so neugierig und ungeduldig und rufe abermals nach Bayern an. Der Beamte: „Wir finden ihre Urkunde nicht. Bitte haben sie noch etwas Geduld. Ich und Geduld? Es geht wider Erwarten ganz gut, denn ich kann es doch nicht beeinflussen. Endlich halte ich meine eigene Post in Händen, die ich in der der Mittagspause öffne. Na toll, denke ich, nun habe ich so lange gewartet, und die schicken mir tatsächlich die falsche Urkunde zu. Ich lese nämlich einen Namen im Feld „Mutter“, die keinesfalls meine sein kann und bei „Vater“ steht nur ./. ?? Na ja, denke ich, schicke ich sie eben wieder zurück. Doch im untersten Absatz überfliege ich den Text und mir schießt mein Vorname ins Auge. Tatsächlich ist es meine Urkunde. Meine! Abstammungsurkunde! Da steht, dass Susanne *** von den Eheleuten *** an Kindes statt angenommen wurde. Fassungslos, entsetzt, enttäuscht, zitternd, eigentlich eher zusammen brechend, denn die Welt, meine heile Welt geht gerade unter, hämmert es in meinem Kopf: ich bin adoptiert, ich bin adoptiert, ich bin adoptiert, das sind nicht deine Eltern, das sind nicht deine Eltern, das sind nicht deine Eltern… Ich liebe sie doch so unendlich… und sie belügen mich mein Leben lang… Ich fühle oder falle ins Nichts…

Diese unerträglich schmerzhafte Erfahrung ist so sinnlos, dass mir beinahe die Worte fehlen. Deshalb bitte ich und appelliere an Euch, all ihr lieben abgebenden und annehmenden Mütter, sprecht mit Eurem Kind. So etwas darf nicht passieren. Wir adoptierten Kinder suchen nicht nach der Schuld der einen oder andern Mutter, sondern nur nach unseren Wurzeln. Lasst uns nicht alleine bei unserer Herkunfts- und Identitätssuche, wenn wir damit beginnen. Wir können nur ein authentisches, diesbezüglich unbelastetes Leben führen, wenn wir schnellstmöglich von Euch aufgeklärt werden – sehr früh und mit zarten Worten: „du hast nicht nur eine Bauchmama, sondern auch noch eine Herzmama.“ Das ist schon alles, aber der Grundstein für eine erlösende Zukunft. Danke dafür!

Wer sind meine Mütter?

Ich bin ein Adoptivkind und mit meiner Situation zufrieden und ausgesöhnt. Auch heute noch, als erwachsene Frau, beschäftigen mich immer wieder Fragen wie

Warum gibt mich meine erste Mutter ab?
Warum möchte mich die zweite Mutter haben?
Warum suche ich nach (m)einer Mutter, obwohl ich eine habe?
Warum habe ich keine Ähnlichkeit mit meinen Eltern?
Warum spüre ich, dass mir etwas fehlt?
Warum spüre ich eine Sehnsucht?
Warum weiß ich nicht was mir fehlt?
Warum weiß ich nicht wonach ich mich sehne?
Warum spüre ich die große Unwahrheit?
Warum sagt mir niemand rechtzeitig die Wahrheit?
Warum schweigen ausnahmslos alle um mich herum?
Warum finde ich nicht meine eigene Identität?
Warum ist die Nähe (m)einer Mutter so weit?
Warum wird die zweite Mutter so merkwürdig?
Warum mag sie mich offensichtlich nicht mehr?
Warum versteht niemand so wirklich meine Trauer?
Warum unterstellt man mir Undankbarkeit?
Warum stelle ich so ungerne Fragen über meine Herkunft?
Warum kümmert sie niemand um meine seelische Verletzung?
Warum suche ich so spät nach meinen Wurzeln?
Warum spreche ich nicht gerne über meine etwas andere Biografie?

Vielleicht finden wir gemeinsam in all den Fragen Antworten?
… einen leichten Blick auf die verlorene Vergangenheit und
gewinnen einen weisen(den) klareren Blick in die Zukunft?

Hat jemand Lust auf eine kleine Selbsthilfegruppe?

Ich freue mich auf jede ernst gemeinte Kontaktaufnahme – das steht außer Frage!

Susanne E.

Der Kontakt kann über die PAN Geschäftsstelle hergestellt werden. Bitte melden sie sich unter [email protected]. Wir leiten ihre Mail dann weiter.

Unter der Mail Adresse: [email protected] können sie Kontakt zur Autorin aufnehmen.

 

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