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Die etwas andere Biografie (Teil 2)

Die etwas andere Biografie
oder: liebe Mütter, redet mit eurem Kind (Teil 2)

Heute, mit 19 Jahren (1976), erfahre ich zufällig von meiner Adoption.

Zu Hause konfrontiere ich meine (Adoptiv)Eltern mit meiner Schockurkunde, also Abstammungsurkunde, die ich, unwissend vom Unterschied zur Geburtsurkunde in Händen halte. Hätte mir das Standesamt die Geburtsurkunde zugesandt, wüsste ich bis zum heutigen Tage mit meinen 59 Jahren noch immer nichts von meiner Adoption.

Sie erschrecken zutiefst und ich habe Angst, Angst vor der Wahrheit, die jetzt sicherlich schonungslos auf mich einstürzen wird. Allerdings erfolgt sie nicht so ausführlich, wie ich mir das unbewusst (?) gewünscht habe, sondern nur kurz und knapp mit den Worten: „Tja, Susanne, das ist so und übrigens ist dein Vater auch dein leiblicher Vater.“ Der nächste unermessliche Schock innerhalb weniger Stunden. Da soll ein Mensch nicht von Schwindelattacken befallen werden…

Mein geliebter Papa ein Fremdgänger? Das hätte ich nie und nimmer vermutet, für ihn hätte ich meine Hand aber wirklich ins größte Feuer gelegt. Meine A.-Mutter ist eine sehr häusliche, fürsorgliche, gepflegte, attraktive und gesellige Frau. Doch nun ist ihre krankhafte Eifersucht einleuchtend! Nach meiner damaligen Meinung schon sollte man sich trennen, wenn die Beziehung nicht funktioniert, als sich gegenseitig zu betrügen. D’rum bin ich enttäuscht über seine inkonsequente Haltung.

Und doch habe ich einen richtigen Vater aber keine wahre Mutter. Ein Wechselbad teils unbekannter Gefühle nimmt im Schattenreich, so bezeichne ich mal meine innere, unterdrückte Welt, seinen Lauf.

Als mein Vater das blanke Entsetzen in meinem Gesicht erkennt, zieht er sich vom Familienrat zurück und überlässt seiner Frau das Wort. Später erfahre ich, dass er sich sehr geschämt hat. Naiv, wie ich war, glaube ich das auch so. Später mehr dazu…

Sie erzählt mir, dass mein Vater 1956 von seinem Arbeitgeber nach Bayern entsandt worden wäre, um dort im Bergbau zu arbeiten. Tatsächlich war es zum damaligen Zeitpunkt mit dem Austausch der Bergleute genau anders herum. „Nach einiger Zeit lernte er dort eine Frau kennen, und aus dieser Beziehung bist du entstanden“ (deshalb der typisch bayrische Familienname auf meiner Abstammungsurkunde), sagte sie mir vorwurfsvoll und mit bitterböser Miene. „Und das reicht jetzt an Erklärungen, so schlimm ist das schließlich alles gar nicht, immerhin ist aus dir ja etwas geworden. Und wir haben immer alles für dich getan. Ab sofort wird nie wieder darüber gesprochen!“ Von meinem erblassten Vater folgt noch ergänzend aber kleinlaut: „Mein Kind, hier ist ein roter Koffer, und wenn es mal so weit ist, bekommst du ihn und findest alle Unterlagen, die du brauchst.“ Ja, der geheime rote Koffer… Niemals habe ich es gewagt, ihn auch nur zu berühren, geschweige denn zu öffnen. Nicht, dass ich ihn häufig zu Gesicht bekomme, aber es brodelt in mir, sobald ich ihn erblicke. Es fühlt sich so an, als lüftete ich damit ein noch größeres Geheimnis und verletze meine Eltern. Ich empfinde Mitleid und Schuldgefühle und möchte das auf gar keinen Fall. Also ignoriere ich ihn, bis er mir Jahrzehnte später anvertraut wird – zwangsläufig.

Nach meiner ersten Bestürzung möchte ich meine Adoptiveltern sofort beruhigen und versichere ihnen überzeugend, dass ich überhaupt kein Verlangen verspüre, nach meiner leiblichen Mutter zu suchen, sie brauchen sich nicht zu sorgen. „Sie lebt sowieso im Ausland, eventuell sogar in Marokko“, schießt es blitzschnell aus dem Mund meiner Adoptivmutter. Ganz ehrlich, ich verspüre absolut keinen Drang, mich auf die Suche zu begeben. Wer hat mich einfach so herzlos abgegeben und unterschrieben, dass er mich nie wieder zurück gewinnen will? Meine Adoptiveltern haben mich liebevoll umsorgt, mich eingeschult und aufopfernd gesund gepflegt, wenn ich mal krank war und so weiter. Außerdem wäre ich mir als die größte Verräterin schlechthin vorgekommen. Es darf sich mir erst gar nicht die Frage stellen, ob ich suchen soll oder nicht. Allerdings möchte ich noch wissen, wie ich denn zu ihnen gekommen bin. Meine A.-Mutter sorgt für eine „plausible“ Antwort: „Eines Tages stand eine mir fremde Frau mit ihrem Baby und ihrer Mutter vor unserer Haustüre gegenüber und behauptete, dass mein Ehemann der Vater dieses Babys sei. Sie möchte es nicht behalten und zur Adoption freigeben. Ja, und ab diesem Tag hast du bei uns gelebt. Du warst ungefähr 9 Monate alt. Ich konnte dich doch nicht wieder abgeben. Du warst nicht gepflegt und machtest keinen gesunden Eindruck, ach, daran darf ich gar nicht mehr denken. Wir hatten sogar noch große Sorge, ob wir dich überhaupt „durchkriegen“.

Sie haben es geschafft 🙂 und meine Dankbarkeit ihnen gegenüber bleibt grenzenlos, und ich lebe trotz dieser Scheinwelt ganz gut, in geordneten Verhältnissen, emotionaler Zerrissenheit aber mit reichem Herzen.

Das Thema Adoption wird zwar nicht mehr angesprochen, doch immer mehr Fragen bündeln sich quasi zu einem Katalog. Z.B. erinnere ich mich plötzlich sehr häufig an die quälenden Albträume im Alter von ca. 10 Jahren, die bestimmt 3 Jahre lang anhalten. Wenn ich erschrocken aufwache, krame ich mein Lieblingsstofftier und mein Lieblingskissen unter meine Arme und mache mich von meinem Kinderzimmer auf den Weg zum elterlichen Schlafzimmer, um dort ganz lieb getröstet zu werden. Doch in der Diele schon bleibe ich jäh wie angewurzelt stehen und wage keinen Schritt weiter. Ich stelle mir ganz konkret vor, dass ich beim Öffnen der Schafzimmertüre meine Eltern dabei ertappe, wie sie sich ganz schnell die Masken auf ihr Gesicht ziehen und ich somit in allerhöchstem Schreck erkennen muss, dass es in Wahrheit nicht meine Eltern sind. Sobald ich tagsüber hellwach darüber sinniere, erscheinen mir diese tief beunruhigenden Zweifel ja selbst als lächerliche Phantasie. Außerdem fühle ich tatsächlich eine panische Angst vor einer Bestätigung – eine grausige Vorstellung für mich.

Es ist nicht auszuschließen, dass ich evtl. irgendwann einmal sozusagen etwas aufgeschnappt habe aber natürlich nicht zuordnen konnte.

Zudem beginne ich, mir Gedanken über all unsere, für mich sinnlosen Umzüge zu machen. Sie fallen mir schwer, denn damit ist nicht nur wieder ein Schulwechsel verbunden mit anderem Unterrichtsstoff, fremden Lehrern und Mitschülern, auch die vertraute Umgebung muss ich verlassen und schlimmer noch, die lieb gewonnenen Freunde. Vermutlich werden meine Adoptiveltern immer wieder weg getrieben von der Furcht, dass mir irgendwann jemand die Wahrheit verrät. Welche Qualen müssen auch sie erlitten haben? Erkennen sie, dass eine Adoption nie endet?

An dieser Stelle möchte ich, soweit ich das darf, herzlich auf (m)ein erlösendes Arbeitsbuch in Sachen Urwunde verweisen, das wirklich jede abgebende und annehmende Familie sowie alle Adoptierten neben dem unverzichtbaren „paten“ liebevoll und sorgsam in die Hände nehmen sollten:

„Heilungsprozess für Adoptierte … ein Weg zur Verarbeitung“

Joe Soll hat es geschrieben, Cornelia Nietzschmann übernahm die Übersetzung und Bearbeitung. Wundervolle Menschen, wie ich finde und bin sehr, sehr froh, dass ich einen Weg finden konnte, um mich bei ihnen zu bedanken!

An die Veranlassung, nun doch nach den Wurzeln zu suchen, erinnere ich mich nicht mehr. Verständlich ist es doch, denn diese innere Unruhe und die Ungewissheit bleiben. Und wenn ich lange nicht mit dem Thema beschäftigt bin, spätestens beim Arztbesuch werde ich ohnehin mit adäquaten Fragen nach diversen Krankheiten in der Familie konfrontiert. Wahrheitsgetreue Antworten kann ich ja leider nur teilweise abgeben. Über die andere Seite lässt sich nichts berichten.

In meinem Geburtsort Windorf bei Vilshofen forsche ich nun motiviert und neugierig, aber auch erfolglos. Da ich kaum brauchbare Informationen vorzuweisen habe, lediglich Name und Geburtsdatum meiner leiblichen Mutter, ist niemand imstande mir zu helfen. Na ja, dann ist es eben so, denke ich und finde mich damit ab. So vergehen viele, viele Jahre ohne großartig wehmütige Gedanken und ohne zu wissen, dass ich niemals in Bayern meine Wurzeln hätte finden können…

Susanne E.

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