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Verbleibensanordnung

Neue für alle Pflegekinder wichtige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes

Claudia Marquardt und Ricarda Wilhelm, Fachanwältinnen für Familienrecht

Es ist in einem unserer Fälle eine sehr bedeutsame Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ergangen. Die Entscheidung trägt das Aktenzeichen
-1 BvR 29101/09- und wird sicher in Kürze auch in den Fachzeitschriften publiziert werden.

Pflegeltern werden leicht erkennen, wie wichtig diese Entscheidung für Pflegekinder ist. Zum einen enthält der Beschluss grundsätzliche Ausführungen zum Schutz von Kindern vor Misshandlung. Zum anderen enthält es zentrale Aussagen zum Thema Bindungen und zum Thema Verbleibensanordnung.

Mit dem Beschluss hob das Bundesverfassungsgericht die Herausgabeanordnung eines Pflegekindes an seine Eltern auf. Zum Zeitpunkt der Entscheidung war der Junge 3,3 Jahre alt und lebte seit seinem 7. Lebensmonat in seiner Pflegefamilie. Im Alter von 10 Wochen war er ins Krankenhaus aufgenommen worden und dann zunächst in einer Bereitschaftspflege untergebracht worden.

Hier ein paar zentrale Zitate aus der Entscheidung. Den Volltext haben wir auf unserer Homepage www.marquardt-wilhelm.de veröffentlicht.

„Gemäß § 1632 Abs. 4 BGB kann das Familiengericht, wenn ein Kind seit längerer Zeit in Familienpflege lebt und die Eltern es von der Pflegeperson wegnehmen wollen, von Amts wegen oder auf Antrag der Pflegeperson anordnen, dass das Kind bei der Pflegeperson bleibt, wenn und solange das Kindeswohl durch die Wegnahme gefährdet wäre. Es ist mit dem Grundgesetz vereinbar, dass hiernach auch die Dauer des Pflegeverhältnisses zu einer Verbleibensanordnung nach § 1632 Abc. 4 BGB führen kann, wenn eine schwere und nachhaltige Schädigung des körperlichen oder seelischen Wohlbefindens des Kindes bei seiner Herausgabe an die Eltern zu erwarten ist (vgl. BVerfGE 68, 176 491 f.>).“

„Im Rahmen der erforderlichen Abwägung der verfassungsrechtlich geschützten Rechte ist jedoch zu berücksichtigen, dass im Bereich des Art. 6 Abs. 2 GG das Wohl des Kindes immer den Richtpunkt bildet. sodass dieses bei Interessenkonflikten zwischen dem Kind und seinen Eltern letztlich bestimmend sein muss (vgl. BVerfGE 75, 201 <218>; 68,176 <188>).“

„Das Kind ist ein Wesen mit eigener Menschenwürde und eigenem Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abc. 1 GG (BVerfGE 24, 119 <144>). Es bedarf des Schutzes und der Hilfe, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln. Die Erziehung und Betreuung eines minderjährigen Kindes durch Mutter und Vater innerhalb einer harmonischen Gemeinschaft gewährleistet dabei am ehesten, dass dieses Ziel erreicht wird (vgl. BVerfGE 56, 363 <384>). Dies trifft jedoch nicht immer zu, insbesondere dann nicht, wenn Kinder in einer Pflegefamilie aufwachsen (vgl. BVerfGE 75, 201 <219>). In diesem Falle gebietet es das Kindeswohl, die neuen gewachsenen Bindungen des Kindes zu seinen Pflegepersonen zu berücksichtigen und das Kind aus seiner Pflegefamilie nur herauszunehmen, wenn die körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen des Kindes als Folge der Trennung von seinen bisherigen Bezugspersonen unter Berücksichtigung der Grundrechtsposition des Kindes noch hinnehmbar sind (vgl. BVerfGE 79, 51 <64>).“

„Für ein Kind ist mit seiner Herausnahme aus der gewohnten Umwelt ein schwer bestimmbares Zukunftsrisiko verbunden. Die Unsicherheiten bei der Prognose sowie der Umstand, dass die Trennung von seinen unmittelbaren Bezugspersonen für das Kind regelmäßig eine erhebliche psychische Belastung bedeutet (vgl. BVerfGE 75, 201 <219>), dürfen nicht dazu führen, dass bei Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie die Wiederzusammenführung von Kind und Eltern schon immer dann ausgeschlossen ist, wenn das Kind seine „sozialen“ Eltern gefunden hat. Bei der Abwägung zwischen Elternrecht und Kindeswohl im Rahmen von Rückführungsentscheidungennach § 1632 Abc. 4 BGB ist deshalb ein größeres Maß an Unsicherheit über mögliche Beeinträchtigungen des Kindes hinnehmbar als bei einem lediglich beabsichtigten Wechsel der Pflegefamilie, der mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG nur vereinbar ist, wenn mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist, dass die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern mit psychischen oder physischen Schädigungen verbunden sein kann (vgl. BVerfGE 75, 201 <220>). Die Risikogrenze hinsichtlich der Prognose möglicher Beeinträchtigungen des Kindes ist allerdings auch bei der Entscheidung über eine Rückführung des Kindes zu seinen Eltern dann überschritten, wenn unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht auszuschließen ist, dass die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern psychische oder physische Schädigungen nach sich ziehen kann. Ein solches Risiko ist für das Kind nicht hinnehmbar.“

„Mit der Herausgabe des Beschwerdeführers ist seine Trennung von den Pflegeeltern verbunden, bei denen er seit seinem siebten Lebensmonat gelebt hat. Diese Maßnahme ist von existentieller Bedeutung für seine weitere Entwicklung. An die Verfassungsmäßigkeit eines solchen Eingriffs sind daher strenge Anforderungen zu stellen.“

„Das Oberlandesgericht trägt der Bedeutung der Grundrechtsposition des Beschwerdeführers nicht hinreichend Rechnung, wenn es die von dem Beschwerdeführer vor seiner lnobhutnahme erlittenen schweren Misshandlungen unter Hinweis auf die Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens völlig unberücksichtigt lässt. Es übersieht, dass diese Misshandlungen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit im engsten Familienkreis entweder durch ein Elternteil oder beide Eltern selbst oder aber durch die auch weiterhin als Betreuungspersonen zur Verfügung stehenden Großeltern erfolgt sind. Vor diesem Hintergrund drängt sich aber jenseits der strafrechtlichen Würdigung der Geschehnisse die von dem Oberlandesgericht nicht gewürdigte Frage auf, welchem Risiko erneuter Misshandlungen der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr in seine Herkunftsfamilie ausgesetzt wäre. Zur Prüfung, ob hierin nach wie vor eine Kindeswohlgefährdung begründet liegt, besteht in gesteigertem Maße deshalb Anlass, weil sich an der damaligen Familiensituation, in der die Übergriffe geschehen konnten, zwischenzeitlich nichts maßgeblich geändert hat. Vielmehr ist inzwischen mit der jüngeren Schwester des Beschwerdeführers nun noch ein weiteres Kleinkind hinzugekommen, sodass es bei der Betreuung beider Kinder vermehrt zu Stresssituationen kommen kann. Es ist aber nicht auszuschließen, dass solche Situationen Auslöser der damaligen Taten waren.“

„Auch setzt sich das Oberlandesgericht nicht damit auseinander, dass der Beschwerdeführer bereits durch den Wechsel von der Bereitschaftspflegefamilie zu seinen jetzigen Pflegeeltern im Alter von knapp sieben Monaten einen Beziehungsabbruch zu verkraften hatte, was den im Falle der Rückkehr zu seinen Eltern notwendigen Aufbau neuer Bindungen zusätzlich erschwert.“

 

PAN NRW e.V.