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Die etwas andere Biografie (Teil 3)

Die etwas andere Biografie
oder: liebe Mütter, redet mit eurem Kind (der dritte und letzte Teil)

Der rote Koffer rückt unbarmherzig näher…

Meine Adoptivmutter muss sich mit ihren 92 Jahren einer komplizierten Operation unterziehen. Im Anschluss daran geht es nicht ohne Kurzzeitpflege und jeder, der einmal mit einer solchen Situation konfrontiert wurde weiß um den damit verbundenen hoch bürokratischen Aufwand, abgesehen von der erforderlichen, intensiven Zeit. Und so lässt sich auch das Öffnen des roten Koffers mit dem unsichtbaren Etikett „Geheime Adoption“ nicht mehr vermeiden. Es fällt mir ungeheuer schwer, denn mir ist klar: Damit durchbreche ich ihre Privatsphäre. Peinlich berührt beginne ich u.a. mit der chronologischen Ordnung der Unterlagen und da liegt es vor mir, das Familienbuch! Nichts Aufschlussreiches ahnend und doch etwas neugierig stöbere ich darin und versuche, die noch halbwegs in Sütterlin verfasste Schrift zu entziffern. Ich entdecke auch nichts Welt bewegendes und doch beinahe enttäuscht will ich es schließen, nachdem sich endlos viele Blankoseiten aneinander reihen. Doch da fällt mein Blick auf die allerletzte Seite und siehe da, es wird das nächste Geheimnis gelüftet. Tatsächlich lese ich, dass meine Mutter nun doch zum Zeitpunkt meiner Geburt verheiratet ist, mit ihrem Mann in NRW lebt. Hier in diesem Buch steht also nun schwarz auf weiß, dass es sehr wohl einen offiziellen Vater gibt. Ich verstehe überhaupt nichts mehr und bin mir ziemlich sicher, dass ich damit nicht alleine bin. In meinem ersten Leben war ich offensichtlich eine Wundertüte, eine Überraschung nach der anderen. Weder erklärt sich nun mein Geburtsort noch die fehlende Eintragung im Feld „Vater“ auf der von mir damals angeforderten Abstammungsurkunde, und deshalb macht es in meinem Inneren abermals heftig „klick“ und spüre sehr genau, dass ich mich nun ab sofort und unaufschiebbar auf eine akribische Suche begeben werde und zwar so lange, bis ich restlos alles aufgedeckt habe.

Ohne Blick auf die Vergangenheit lässt es sich nur in einer nebulösen Gegenwart leben.

In meiner Verzweiflung suche ich nach sämtlichen adäquaten Suchmaschinen im Internet und sogar nach Kontaktdaten für adäquate Sendungen wie z.B. „Bitte melde dich“. Da ich meines Erachtens über eine unzureichende Bühnenpräsenz verfüge, möchte ich auf gar keinen Fall ins Fernsehen und teile das gleich unmissverständlich mit. Erhalte ich deshalb keine Antwort? Jedenfalls bleibt mir nach diversen Recherchen nur noch die Adoptionsvermittlungsstelle, die ich nahe meines Wohnortes finde. Dort treffe ich auf die liebenswerte, einfühlsame und absolut kompetente Ansprechpartnerin, Frau Regina E. In ihrer professionellen und doch so sensiblen Art verhilft sie mir zu erlösenden Antworten auf so viele quälende Fragen. Unverhofft trifft mich die Information, dass meine leibliche Mutter Hanna bereits 1994 verstorben ist, in dem Jahr, in dem mein geliebter Sohn André geboren wird. Außerdem erfahre ich über die Existenz (m)einer 9 Jahre jüngeren Halbschwester Sabine. Über so manchen abenteuerlichen Umweg kann ich doch endlich Kontakt zu ihr aufnehmen und spüre ihre und meine Freude, uns endlich kennen zu lernen. In unserem ersten und sehr aufrüttelnden Telefonat erzählt sie mir u.a. von der weiteren Schwester, nämlich Barbara. Konsterniert höre ich, dass diese nur knapp zwei Jahre jünger ist als ich. Warum, frage ich mich wie ein kleines Kind, konnte meine Mama mich nicht auch behalten? Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Adoption erst im Dezember 1958 abgeschlossen war – meine Halbschwester Barbara wurde im September 1959 geboren.

Hoch gespannt folge ich ihren weiteren Schilderungen und weiß nun, auch über andere Informationsquellen, dass Hanna im Jahr 1959 zum zweiten Mal geheiratet und sogar unmittelbar in meiner Nähe gelebt hat, auch noch viel später mit ihrer Familie. Ich kann dies alles kaum glauben, bin jedoch unendlich froh, Weiteres zu erfahren.

Und damit die gesamte Biografie noch um einiges undurchsichtiger wird: Nach einer Weile befragt mich Sabine eher beiläufig zu meinen Adoptiveltern. Als ich ihr erkläre, dass mein Adoptivvater ja auch mein lieblicher Vater sei, schmettert sie in den Telefonhörer: „Neiiiin, deeer ist doch nicht dein Vater. Das ist der Friedrich H*!!! „ Ich bringe keinen Ton mehr heraus, nicht nur vor lauter Leere in meinem Kopf und erstarre regelrecht. Bevor ich mich halbwegs gefangen habe, geht es auch schon unbarmherzig weiter mit der nächsten Hiobsbotschaft: „Die brodelnde Gerüchteküche hält es durchaus für möglich, dass es der Stiefvater unserer Mutter ist.“

Ich habe keinen Boden mehr unter den Füßen. Mein heiß geliebter Vater ist nun doch nicht mein Vater??? Dabei glaubte ich doch, dass er sich stets wegen des Fremdgehens geschämt hat, doch es handelt sich offensichtlich dabei um meine Lebenslüge! „Das ist einfach nicht wahr!“ schreit alles in mir. Das stimmt niemals! Und dessen nicht genug, nun ist auch nicht ausgeschlossen, dass mein Stiefgroßvater mein leiblicher Vater ist? Unfassbar, wirklich unfassbar. Selbst jetzt noch, wenn ich es schreibe, habe ich ein solch enorm starkes Herzklopfen, dass es jeder um mich herum hören und sehen muss!

Barbara lebt nur zwei Orte von mir entfernt und wir treffen uns in Hochspannung. Sie ist mir auf Anhieb sympathisch. Wir tauschen uns eine Weile aus, bis sie plötzlich fragt: „Susanne, wir sind ja Schwestern. Fühlst du jetzt irgend etwas?“ Ich muss lachen und antworte: „Nein, ehrlich gesagt, nichts.“ Das ist keine große Überraschung, denn wir haben unsere Geschichte nicht gemeinsam erlebt. Wenige Wochen später bei ihr zu Hause darf ich mit ihr die Fotoalben durchstöbern, die sie von unserer Mutter Hanna übernommen hat. Das letzte versetzt mir einen unbeschreiblichen Schock: Darin entdecke ich auf der letzten Seite doch tatsächlich zwei Bilder von meiner Adoptivmutter und mir! Sofort ist uns klar, dass diese auf jeden Fall nach der abgeschlossenen Adoptionsakte entstanden sind. Mir fehlen die Worte! Blankes Entsetzen macht sich breit, und es stellt sich nicht nur mir die Frage, unter welchen mysteriösen Umständen sich diese Fotos in Hanna’s Album einfinden konnten. Aber auch darauf werde ich keine Antwort finden.

Wenn Kinder einen Baum ansehen, bemerken sie die Blätter.
Wenn sie älter werden, umarmen sie den Stamm,
doch irgendwann suchen sie die Wurzeln, denn darauf bauten sie ihr ganzes Leben.

Paul Sunderland hat sich in etwa so geäußert: Es ist nicht so sehr, was dir im Leben geschieht, das dich umwirft, es ist tatsächlich, wie sicher deine Anfänge sind. Es ist ein bisschen wie die Sturm-Analogie. In einem Sturm werden die Bäume nicht umstürzen, nur weil der Wind so stark ist. Aber diejenigen, die umstürzen, stürzen um, weil die Wurzeln nicht stark genug sind. Wenn du eine sichere Basis hast, wirst du bedeutend widerstandsfähiger, wenn der Wind kommt, und die Wurzeln sind dann auch elastischer.

Meine winzig kleine Familie entwickelt sich also zu einer unerwartet großen, obwohl die meisten Familienmitglieder bereits verstorben sind. Persönlich kennen gelernt habe ich noch eine Halbschwester von Hanna, nämlich Anne. Sie jedenfalls ist hoch begeistert ob der großen Ähnlichkeit und nimmt mich liebevoll und neugierig „auf“, wofür ich ihr sehr dankbar bin. Gleichzeitig ist meine „Ankunft“ ein kleiner Trost, der ihr über den Verlust ihrer verstorbenen Lieblingsschwester hinweg hilft. Das freut mich sehr, und ich bin ja sooo geballt gespannt auf umfangreiche und hoffentlich auch erlösende Schilderungen. Dankbar bin ich ihr auch von Herzen dafür, dass sie für mich Blut gelassen hat. Ich lerne nämlich eine Humangenetikerin kennen, die ich mit diversen Fragen zu DNA-Recherchen aufsuche. Ich darf ihr meine komplette Geschichte schildern, und sie hat größtes Verständnis dafür, dass ich unbedingt wissen möchte, wer mein leiblicher Vater ist. Sie jedoch kann nur noch feststellen mit dem Blut von Anne, ob ihr Vater auch der meinige ist. Das würde ja bedeuten, dass mein Stiefgroßvater auch mein leiblicher Vater ist und gleichzeitig der Vater meiner Tante. Somit wäre sie nicht nur meine Tante, sondern auch meine Halbschwester? Oh je, was für ein wirres Durcheinander. D’rum ist es sehr tröstlich zu erfahren, wie die DNA-Analyse bestätigt, dass es so nicht ist. Und endlich einmal eine klare Antwort aber auch die untröstliche Erkenntnis, dass der leibliche Vater weiterhin unbekannt bleibt.

So, wer aber ist dieser Mann, der Hanna geheiratet hat? Ist vielleicht er möglicherweise mein leiblicher Vater? Ich fahre also ausnahmslos jeglichen Hinweisen nach in Straßen, in denen er gelebt haben könnte. Nichts! Folglich kann es nur noch Bayern sein und ich nehme abermals nach so vielen Jahren Kontakt nach Vilshofen auf, zum hiesigen Standesamt. Glücklicherweise verbindet man mich mit dem Leiter, der sich wider Erwarten alle Zeit der Welt nimmt, meiner Geschichte interessiert und gerührt lauscht und verspricht, mir auf jeden Fall behilflich zu sein, denn der Familienname B*** sei ihm keinesfalls unbekannt. Er notiert sich meine Telefonnummer und nur einen Tag später klingelt’s… Es ist tatsächlich der ehemalige Schwager meiner leiblichen Mutter, ein wundervoller Mensch, wie ich ihn später persönlich kennen lernen darf. Es erfolgt ein äußerst emotionales Telefonat, das ich so nicht erwartet habe. In seinem sympathischen bayrischen Dialekt trifft er mitten ins Herz: „I hob di so oft gschaukelt bei uns zua heisle. Du warst so a goidigs Boby.“ Ach, wie schön und wie wohl tuend sind diese Worte für mich und bin zu Tränen gerührt.

Auf geht’s nach Bayern…

… und wir werden von meiner großen ehemaligen juristischen Familie derart warmherzig empfangen, dass ich es kaum beschreiben kann und ganz gewiss niemals vergessen werde. Vom ersten Moment an fühle ich mich geborgen. Es wird herzlich gelacht und zünftig auf typisch bayrische Art urig gefeiert, einfach toll! Ich weiß ihre unglaublich liebevolle Gastfreundschaft sehr zu schätzen und freue mich immer wieder von Herzen auf ein kurzweiliges Wiedersehen an der schönen Donau.

Also, Hanna erwartet mich als ein uneheliches Kind. Zur damaligen Zeit sind einige Bergleute als Kostgänger bei meiner (leiblichen) Oma zu Gast. Einer von ihnen ist Helmut, der meine Mutter offensichtlich sehr mag, vielleicht auch Mitleid empfindet und Verständnis für ihre Situation hat. Jedenfalls heiraten sie vier Wochen vor meiner Geburt in NRW und reisen unmittelbar danach gemeinsam nach Vilshofen, um dort in seinem elterlichen Haus eine Zeit lang zu leben. Damit erklärt sich mein Geburtsort. Endlich! Aber warum steht auf meiner Abstammungsurkunde nichts von meinem Vater? Hanna ist mit mir nach einigen wenigen Monaten wieder zurück nach NRW gefahren. Sie fühlt sich scheinbar nicht wohl, vielleicht einsam, denn ihr Mann muss weiterhin in NRW arbeiten. Somit sehen sie sich nur an den Wochenenden und die Beziehung zerbricht. Hinzu kommt die fremde Umgebung und keine Aussicht auf eine Arbeitsstelle. Irgendwann ruft sie ihn an und bittet um die Scheidung. Sie möchte einen anderen Mann heiraten. Daraufhin hat sich Helmut verständlicherweise als Vater „austragen“ lassen. Damit erklärt sich die leere Zeile im Feld „Vater“ auf meiner Abstammungsurkunde.

So zwischendurch ist erwähnenswert für diejenigen, dich sich evtl. fragen, warum ich nicht doch noch einmal meine Adoptivmutter in ihrem hohen Alter über mein „Geheimnis“ anspreche. Der Verstand ist ja hin und wieder die Zwangsjacke der Gefühle, und dieser verbietet mir, sie mit diesem Thema zu belasten. Doch vor etwa vier Jahren, sie war gerade 90 Jahre alt und geistig immer noch bewundernswert rege, versuche ich es zaghaft zum allerletzten Mal. Den günstigen Zeitpunkt habe ich der Sendung „Vermisst“ zu verdanken, die sich meine Adoptivmutter regelmäßig anschaut. Der Gedanke, dass sie die Sendung doch gar nicht braucht, da sich eine Wurzelsuchende, allerdings ohne laufende Kamera und einem breiten Publikum, in ihrer unmittelbaren Nähe aufhält, lässt mich immer wieder hoffen. Also frage ich sie ganz lieb, ob sie sich ein kleines bisschen vorstellen kann, dass auch ich ein verständliches Bedürfnis verspüre und mir so sehr wünsche, etwas mehr aus der Zeit vor meiner Adoption zu erfahren. Sie aber fühlt sich offensichtlich sofort persönlich angegriffen und fällt mir schrill ins Wort und zum wiederholten Male muss ich mir anhören: „Deine Mutter war eine miese und billige Frau, die einfach so ihr Kind weg gegeben hat. Wie kann man nur! Und ihre Mutter war genauso schlimm.“ Zaghaft bringe ich ein: „Aber vielleicht hatte sie so wichtige Gründe, dass ihr keine andere Wahl blieb. Zur damaligen Zeit fiel es den Frauen in jeglicher Hinsicht doch noch bedeutend schwerer, alleine ein Kind groß zu ziehen. Vielleicht wurde sie ja sogar von ihrer Mutter in diese Lage getrieben.“ Da ist es vollends vorbei. Sie ringt nach Luft und wirklich verzweifelt um Fassung aber erfolglos. Es geht dafür unnachgiebig und auf hysterischer Ebene weiter: „Hör doch mit so einem Quatsch auf! Außerdem habe ich wegen dir kein eigenes Kind bekommen können, neiiiiiiin, und wegen dir habe ich mich extra sterilisieren lassen! Das habe ich doch schon alles gesagt.“ Oh Gott, ich zittere am ganzen Körper und fühle mich wieder derart schuldig, wie sich jemand fühlen muss, der eine schwere, nie wieder gut zu machende Straftat begangen hat. Wie tragisch, dass sie sich wegen mir hat sterilisieren lassen, und das im Jahre 1958!

Erschüttert, mit dem üblichen schlechten Gewissen fasse ich doch noch mal all meinen Mut zusammen und bitte sie leise aber eindringlich um Aufklärung: „Bitte sag mir doch die Wahrheit, erzähle mir in Ruhe alles, zumindest was relevant ist. Sprich mit mir! Was du mir jetzt an den Kopf wirfst, hilft mir nicht wirklich weiter aber verletzt mich zutiefst.“ Daraufhin erhebt sie unbeeindruckt mit einem gewissen Stolz ihr Haupt und wendet sich von mir ab. Enttäuscht und beinahe verbittert, aber im Gegensatz zu ihr mit hängendem Kopf verlasse ich ihre Wohnung und spreche dieses heikle, düstere Thema nie wieder an.

Beim Amtsgericht beantrage ich hoffentlich noch rechtzeitig Akteneinsicht und muss sehr geduldig sein, denn der Adoptionsvertrag stammt immerhin aus dem Jahre 1958. Und den findet niemand im PC, da muss man in den Keller. Endlich bekomme ich einen Termin und kann vor lauter Aufregung kaum blättern. Die Justizangestellte verhält sich äußerst einfühlsam und versorgt mich sogar mit Schokolade und Gummibärchen. Um mich herum versammeln sich rein zufällig nun auch Richter, die von meiner Akte hören und interessiert mit mir gemeinsam lesen, das sich als nicht ganz einfach erweist, denn viele Seiten sind in Sütterlin geschrieben. Allesamt sind wie ich enttäuscht darüber, dass ich auch infolge der Akteneinsicht keinen Aufschluss darüber bekommen werde, wer mein leiblicher Vater ist.

Leider hat Hanna bis zu ihrem Tod niemals dieses Geheimnis gelüftet.

Dafür entnehme ich der Akte die nächste Lüge: Ich finde ein ärztliches Gutachten über den gesundheitlichen Zustand meiner Adoptivmutter. Sie erkrankte gynäkologisch bereits vor vielen Jahren derart, dass sie niemals ein eigenes Kind hätte bekommen können. Zum Zeitpunkt der Adoption waren sie schon 9 Jahre verheiratet. Die damalige Fürsorgestelle schreibt überdies, dass seit Jahren nach einem geeigneten Pflegekind gesucht wurde. In mir hätte das Ehepaar es nun gefunden und beantragt die Adoption. Ich bin (mal wieder) fassungslos und kann kaum glauben, was ich da lese. Gleichzeitig fällt aber auch diese so unsagbar schwere Last von meiner Seele, nicht die Schuldige für ihre Kinderlosigkeit und die angebliche Sterilisation zu sein – eine unermessliche Erlösung! Irgendwie habe ich das Gefühl ein paar cm gewachsen zu sein, und auf meinen Schultern hat sich die Last deutlich reduziert. Natürlich überfällt mich eine enorme Wut auf meine Adoptivmutter und bin absolut davon überzeugt, dass ich ihr diese Lebenslüge niemals verzeihen werde. Doch mir wird ebenso deutlich, mit welcher Schwere auch sie durch viele Jahrzehnte ihres Lebens gegangen sein muss und wie enttäuschend, dass der Schmerz über ihre Unfruchtbarkeit trotz meiner Adoption nie endete.

Mit dem Blick durch die Brille der Vergangenheit und den mittlerweile erlangten Resultaten glaube ich nun zu verstehen, wie sich ihre Hassliebe spätestens ab dem Zeitpunkt meiner Backfischjahre entwickelt hat.

Adoptierten Menschen, die wie ich mit Schuldgefühlen zu kämpfen haben, möchte ich noch etwas aus „Heilungsprozess für Adoptierte“ mit auf den Weg geben:

„Wir schulden niemandem etwas dafür großgezogen worden zu sein. Es war die Verpflichtung unserer Adoptiveltern uns großzuziehen, uns alles mögliche zu geben, um sicherzustellen, dass wir gesund, sicher, wohlernährt, gebildet und gekleidet sind. Alle Kinder verdienen diese Dinge, und ihre Eltern schulden es ihnen. Ihre Eltern mögen nicht in der Lage sein, es ihnen zu geben, aber sie schulden es ihnen. Es ist eine der Aufgaben des Elternseins. Tatsächlich sollten Adoptiveltern uns dankbar sein, dass sie eine Chance bekommen haben ein Kind großzuziehen.“

Adoptionsverlust ist das einzige Trauma der Welt,
bei dem von den Opfern von der ganzen Gesellschaft Dankbarkeit erwartet wird. –
von Pastor Keith C.

Für alle diejenigen, die bisher noch nicht mit traumatisierten, unverstandenen Adoptierten konfrontiert wurden, gerade weil sie ein gutes Leben in ihrer Adoptivfamilie führen durften:

„Wenn deine leiblichen Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen wären, als du wenige Tage alt warst und wenn du aufgrund dessen von Verwandten großgezogen worden wärest, würde jeder anerkennen, dass du dein Leben auf eine sehr traurige Weise begonnen hast. Du hättest Bilder und ein Grab, das du besuchen könntest und man würde dir erlauben und dich sogar dazu ermutigen, deine traurigen Gefühle und deine Wut auszudrücken. Sobald jedoch das Wort Adoption ins Spiel kommt, sehen die meisten Leute den Verlust als nicht so schlimm oder überhaupt als einen Verlust an. Aus der Perspektive des Kindes ist die Erfahrung allerdings die gleiche: Der Verlust seiner Mutter ist das Gleiche wie ein physischer Tod. Wenn ein psychologischer Tod geschieht, ist es genauso traurig, genauso tragisch und muss genauso betrauert werden, wenn nicht noch mehr. Dies zu verleugnen, bedeutet die Realität zu verleugnen und verhindert Trauerarbeit, und Trauerarbeit ist ein wichtiger Teil der Heilung.“

Aus meiner Erfahrung möchte ich noch ergänzend hinzufügen, dass es sich so anfühlt, als klebe man einen zerbrochenen Teller wieder zusammen. Der Klebstoff symbolisiert eine dünne Bindung. Die gleichen Stücke werden zwar verwendet und doch passen sie nicht mehr so perfekt zusammen wie vor dem Bruch. Es ist eben nicht mehr das Original. So beschreibt sich dieses oftmals auftretende Gefühl von „es ist etwas kaputt – es fehlt etwas, und es wird nie wieder das Gleiche sein.

Die ausgedehnten Spaziergänge in der Natur mit meiner wundervollen Groenendalehündin Judy, die kostbaren Seiten in „Heilungsprozess für Adoptierte“ und die erleuchtende Bemerkung der Regina E. „sie taten nur das, was sie in diesem Moment tun konnten“ halfen mir unerwartet schnell dabei, meine negativen Gefühle zu besiegen, die düsteren Gedanken auszuschalten, meiner leiblichen Mutter und meinen Adoptiveltern aufrichtig zu verzeihen, und mir wieder mehr Raum zu schaffen für all das Positive, was ich erleben durfte. Ich lasse aus Mauern wieder Blumen wachsen und dieses gute Gefühl der Dankbarkeit, der Schlüssel für ein glückliches Leben hat wieder die Oberhand. Dankbarkeit auch dafür, dass ich bei meiner Herkunftssuche so tollen Menschen begegnet bin und die ich überhaupt um mich herum habe. Danke vielmals auch an den unentbehrlichen „paten“, der mir eine Chance gegeben hat, hoffentlich ein kleines bisschen die Welt zu bewegen mit meiner allergrößten Herzensangelegenheit, nämlich der Wahrheit: Liebe Mütter (hierzu sind natürlich auch alle Väter herzlich eingeladen), redet mit eurem Kind. Danke dafür!

Eine Hand voll Menschen fragt mich, was ich denn mit diesem großen Wunsch erreichen kann, es würde ja doch niemand meine Biografie, in der übrigens Schuldzuweisungen in keiner Sekunde das Ziel sind, lesen. Mein ungebrochener Optimismus ermutigt mich daran zu glauben, dass sie doch von dem einen oder anderen lieben Paar, das sich mutig auf einen beschwerlichen Weg macht und sich sehnsuchtsvoll einem abgegebenen Kind annehmen möchte, gelesen wird. Selbst wenn es von Hunderten von Kindern mit ihrer Urwunde nur drei sind, die vor einem so abstrusen Leben wie meins bewahrt werden können, habe ich doch schon gewonnen. Und die drei Kinder erst recht.

Die Stimme Ihres Kindes, die unter all den Stimmen,
die etwas zum Thema Adoption zu sagen haben,
ist die wichtigste.

Unter der Mail Adresse: [email protected] können sie Kontakt zur Autorin aufnehmen.

 

PAN NRW e.V.